Anne Reef
THE UNDEAD
Band 1
DER ANFANG VOM ENDE
Roman
Impressum
© fantastic shades Verlag Simone Nikolay, Konz 2014
© the author
1. Auflage
Cover: S. Nikolay, Hintergrundbild © Kwest
- Fotolia.com
Überschriften: Dirty Ego, © misprinted type
ISBN: 978-3-9816559-2-6 (print)
978-3-9816559-3-3
(ePub)
Alle Personen innerhalb dieser Geschichte
sind frei erfunden, Ähnlichkeiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Bitte
respektieren Sie die Arbeit der Autoren und erwerben Sie Bücher rechtmäßig.
Meinen Eltern, die
Zombies nicht ausstehen können,
meinen Schwestern,
die ich von ihnen überzeugen konnte,
und meinen besten
Freundinnen,
die ohnehin alles
verschlingen,
was mit Zombies zu
tun hat.
Wenn ich bei einer
Zombieapokalypse jemanden
retten würde, dann
euch.
Prolog
Eine frische Brise
wirbelte feinen Sand und verdorrte Gräser durch die Luft und sie atmete tief
ein. Nicht mehr lange und sie konnte den Versuch wagen. Sie ging hinter den
Paletten in Deckung, um ihre Waffen zu prüfen und fluchte. Wenn es hart auf
hart kam, würde die Munition nicht reichen. Sie musste sparsam damit umgehen.
Sie spähte zum Eingang des Bunkers. Im orangenen Licht der untergehenden Sonne
sah sie zwei Männer in weißen Schutzanzügen und Atemmasken über den Platz gehen.
Sie trugen eine silberfarbene Box mit dem schwarz-gelben Warnzeichen für
Biogefährdung. Wieder eine Ladung mit virusverseuchtem Fleisch, das in die
Verbrennungsanlage in die große Halle gebracht wurde. Das war ihre Chance, wenn
sie zurückkamen, musste sie sie überwältigen. Sie lehnte sich an das raue Holz
und schloss die Augen.
Haltet durch, ich hol euch da raus!
Sie hörte, wie die
Türen der Halle zugeschlagen wurden und machte sich bereit. Die beiden
erreichten den Eingang, einer der Männer schob eine Zugangskarte in das
Terminal und gab den Code ein.
Jetzt!
Sie verließ den
Schutz der Paletten und schlich sich von hinten an. Diese Idioten, wie konnte
man nur so leichtsinnig sein. Sie erreichte die beiden, als sie den Aufzug
betreten hatten, der sich direkt hinter der Tür befand. Dann ging alles sehr
schnell. Mit dem linken Arm umschlang sie den einen Mann und hielt ihm die P8
unter das Kinn, während sie den anderen mit einem sauberen Stich ihres Messers
in den Kehlkopf erledigte. Sie drehte die Klinge um 90 Grad in der Wunde,
gurgelnde Geräusche entwichen seiner Kehle und Blut spritzte ihr in kleinen,
pulsierenden Fontänen entgegen und besudelte ihre Kleidung. Hinter ihr schloss
sich die Stahltür automatisch.
„Schön brav sein“,
zischte sie, als sie dem Mann die Waffe an den Kopf hielt. „Du und ich, wir
haben heute noch viel vor.“
***
Einige
Monate zuvor
Quelle:
Internetpräsenz eines deutschen Nachrichtensenders:
18. September, 11:03 Uhr
Obdachloser greift Passanten an
Horror-Attacke in Belgien:
In der belgischen Kleinstadt Lier bei Antwerpen wurde heute ein Obdachloser von
der Polizei erschossen, nachdem dieser einen Passanten tätlich angegriffen
hatte.
Laut den Aussagen
einer Zeugin hatte der offenbar angetrunkene oder unter Drogen stehende
Angreifer sich in das Gesicht des Opfers verbissen und begonnen, es zu
verspeisen. Die verständigte Polizei traf nur wenige Minuten später am Tatort
ein. Nachdem der Obdachlose nicht auf die Aufforderungen der Beamten reagierte,
feuerte einer von ihnen einen Schuss auf die Beine ab. Da dies nicht zu einer
Reaktion führte, gaben die Polizisten weitere Schüsse ab, einer davon traf den
Angreifer in den Kopf. Er starb sofort, das Opfer wurde mit schweren
Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Große Teile des Gesichtes wurden stark
in Mitleidenschaft gezogen, der junge Mann liegt derzeit im künstlichen Koma.
Wann die Ermittler ihn vernehmen können, ist noch ungewiss, ebenso, was den Angreifer
zu seiner Tat verleitet hatte. Die Kripo geht bis dato von einer durch Kokain
ausgelösten Psychose aus. Genaueres soll eine Obduktion ergeben.
20. September, 18:39 Uhr
Blutiger Zwischenfall in belgischem
Krankenhaus
Lier, Belgien: In
Belgien kam es heute zu einem blutigen Zwischenfall in einem Krankenhaus. Ein
aus dem Koma erwachter Patient soll eine Pflegerin angefallen und sie, unter
anderem durch Bisswunden, schwer verletzt haben. Der Täter floh, nach den
Vermutungen des Klinikpersonals, über das Treppenhaus. Die Krankenschwester
liegt auf der Intensivstation, es ist nicht sicher, ob sie die Nacht überleben
wird. Gerüchten zufolge soll der Täter nur zwei Tage zuvor selbst Opfer eines
tätlichen Angriffs geworden sein, dazu wollte die hiesige Kriminalpolizei
jedoch keine Angaben machen.
22. September, 07:15 Uhr
Tödliche Krawalle in Belgien
Belgien: In
mehreren Städten kam es zu schweren Ausschreitungen. Der Grund, warum die
Menschen auf die Straßen gehen, ist bis dato nicht bekannt. Augenzeugen zufolge
bekämpfen sich die Menschen mit bloßen Händen. Ganze Straßenzüge und Stadtteile
sind im Ausnahmezustand. Die Polizei versucht vor Ort gegen die Unruhen vorzugehen,
allerdings kommt sie kaum gegen die Menschenmassen an. Wir halten Sie auf dem
Laufenden.
23. September, 06:49 Uhr
Krawalle breiten sich aus
Die Krawalle, von
denen gestern nur Belgien betroffen war, breiten sich auf die Nachbarstaaten
aus und haben nun auch Deutschland erreicht. Bisher ist von mehreren Tausend
Todesopfern die Rede. Die Polizei hat das Militär um Unterstützung gebeten,
Erfolge sind allerdings nicht zu verzeichnen. Mittlerweile geht man nicht mehr
von politischen Beweggründen aus. Unser Reporter berichtet von Menschen, die
wie im Wahn auf andere losgehen. Gerüchte wurden laut, dass es sich hierbei um
eine Art hochansteckende virale Erkrankung handelt, welche die Hirnhaut und den
Hirnstamm angreift und dadurch starke Psychosen auslöst. Dies wurde allerdings
noch von keiner offiziellen Seite bestätigt. Religiöse Gruppen und Verschwörungstheoretiker
reden von einem möglichen Weltuntergang. Die Regierung warnt jedoch vor
unnötiger Panikmache und rät den Menschen in ihren Häusern zu bleiben, bis die
Unruhen eingedämmt sind.
23. September, 14:12 Uhr
Kommt jetzt die Zombieapokalypse?
Berlin: Seit
mehreren Stunden hält sich das hartnäckige Gerücht, die Infizierten seien nicht
mehr am Leben, sondern würden als Untote durch die Straßen ziehen. Unser
Reporter sowie mehrere Augenzeugen, berichten von Verletzungen, die eigentlich
tödlich sein müssten, zumindest aber die Betroffenen für eine Weile außer Gefecht
setzen sollten. Allerdings würden diese sich daran nicht stören und gehen in
geschlossenen Gruppen auf die Bevölkerung los. Im Internet kursieren Videos,
die Gestalten zeigen, die teilweise ihre Innereien hinter sich herziehen. Ob es
sich hierbei möglicherweise um Fälschungen handelt, ist nicht bekannt. Von offizieller
Seite werden diese Gerüchte als lächerlich und unhaltbar eingestuft. Des Weiteren
bereiten sich die Menschen in den noch nicht betroffenen Gegenden mit Hamsterkäufen
auf die Seuche vor und legen sich Wasservorräte an. Das Strom- und Wassernetz
ist landesweit überlastet. Plünderungen und Übergriffe stehen an der
Tagesordnung. Mittlerweile wurde der Katastrophenschutz eingeschaltet. Die
Regierung warnt ausdrücklich davor, das Haus zu verlassen und Verwandte aufzusuchen.
Im Bundestag wird derzeit über eine mögliche Evakuierung der Städte diskutiert.
Aufbruch ins Ungewisse
25. September bis 27. September
„Jenny! Jennifer!“
„Was ist denn?“ Jenny
warf das Geschirrtuch auf die Arbeitsplatte der etwas herunter gekommenen Küche
und betrat das Wohnzimmer, woher die Rufe ihres Bruders Chris kamen, bei dem
sie seit knapp zwei Jahren wohnte. „Gibt‘s was Neues?“
„Da, schau dir das
an!“ Er nickte in Richtung des Fernsehers – die Nachrichten liefen. Sie schaute
auf die Uhr über der Küchentür. Kurz vor Neun, die Abendnachrichten waren
längst vorbei. Wieder eine Sondersendung.
„Es
wird jetzt evakuiert“, meinte er und winkelte die Beine an, um ihr Platz zu
machen.
Sie ließ sich neben ihn
auf das Sofa fallen.
„Es werden im Laufe der
Woche Busse geschickt, die die Menschen zu provisorisch errichteten und gut
bewachten Notunterkünften bringen sollen“, sagte die Nachrichtensprecherin
gerade. „Diese werden zumeist in Kleinstädten errichtet. Teilweise kann es infolgedessen
zu vorübergehenden Enteignungen von Häusern und Grundstücken kommen. In den
Städten wird es nicht mehr lange sicher sein, die Rote Zone breitet sich weiter
mit erschreckender Geschwindigkeit aus, etliche Großstädte im Norden wurden
bereits überrannt. Seit den Mittagsstunden verbreitet sich die Seuche akut. Die
Evakuierung beginnt in den Städten, da dort aufgrund der enormen Bevölkerungsdichte
eine potenziell höhere Infektionsgefahr besteht,“ Jenny und Chris tauschten
einen unruhigen Blick, „anschließend wird sie auf die umliegenden Gemeinden erweitert.
Bitte packen Sie nur das Nötigste ein. Aus Platzgründen sind pro Person maximal
zehn Kilo Gepäck gestattet, das entspricht etwa einer kleinen Reisetasche oder
einem großen Rucksack. Sie werden in den Unterkünften mit allem Nötigen versorgt,
nehmen Sie daher nur Ihre persönlichen Dokumente und ein paar Kleidungsstücke
mit. Die genauen Termine der Räumung werden voraussichtlich morgen im Teletext
und im Internet auf den Seiten Ihrer Gemeinde veröffentlicht. Die Sammelpunkte
für die Busse werden durch Schilder markiert. Der Katastrophenschutz bittet ausdrücklich
davon abzusehen, mit dem eigenen Wagen die Städte zu verlassen. Das würde
zu Staus führen, welche die Evakuierung erheblich behindern würden. Weitere
Tipps, die Sie unbedingt beachten sollten, finden Sie auf unserer hier
eingeblendeten Homepage. Dort können Sie ebenfalls einen offiziellen Prospekt
des Katastrophenschutzes einsehen. Weiterhin wurde eine bundesweite Notfallhotline
eingerichtet, die ab sofort für Sie erreichbar ist. Über die aktuellen
Entwicklungen halten wir Sie natürlich weiterhin auf dem Laufenden. Das war
Sarah Lehmann mit einer Sondersendung. Wir melden uns heute regulär um 22:00
Uhr wieder, bis dahin bleiben Sie bitte in ihren Wohnungen und Häusern und warten
Sie auf weitere Informationen. Guten Abend.“
Chris
schnaubte. „Das wird niemals funktionieren.“
„Die
wissen schon, was sie tun.“
„Pff“,
machte er. „Niemals wird das glattgehen! Hier hat es noch nie eine so groß
angelegte Evakuierung gegeben. Ich sage dir, es wird alles aus dem Ruder
laufen. Es wird Massenpaniken geben und die Leute werden sich gegenseitig tottreten,
wenn erst einmal akute Gefahr besteht und sie realisiert haben, dass es hier um
ihr Leben geht.“
„Du
bist zu dramatisch, Chris.“
„Du
scheinst es auch noch nicht kapiert zu haben.“ Er kratzte sich am Hintern und
trat ihr dabei in die Seite. Sie verzog das Gesicht.
„Es
geht hier nicht um ein Hochwasser, bei dem man auf das Dach klettern kann oder
um einen Tornado, der schnell wieder vorbei ist. Wir reden hier von Ausmaßen,
die die Welt noch nie gesehen hat. Wenn es auch nur annähernd so ist, wie in
diesen Filmen, wird die Welt innerhalb von Tagen vor die Hunde gehen. Es wird
keine Regierung mehr geben. Und keine Soldaten, die uns den Rücken frei halten.“
„Du
zockst zu viel“, sagte Jenny müde. „Wir sind hier weder in einem deiner
PC-Spiele noch im Film. Das wird hier alles anders ablaufen.“
„Trotzdem.“
„Mann,
bist du heute wieder schlagfertig“, gab sie genervt zurück.
Er warf
ihr einen vernichtenden Blick zu.
„Ich
finde es einfach nicht gut, mich in einen Bus zu setzen, mit nicht mehr als
einer Unterhose im Gepäck, und darauf zu hoffen, dass andere alles für mich
regeln.“
Das war
typisch für Chris. Alles infrage stellen und sich bei allen Erfahrungen und
Überlegungen auf irgendwelche Filme und Spiele beziehen. Jenny hob resignierend
die Schultern.
„Sie
werden uns keine Wahl lassen. Ich bin sicher, dass sie bestimmte Maßnahmen
einleiten, damit nicht jeder Dödel unkontrolliert durch die Gegend fährt und
den Verkehr behindert“, sagte sie ohne jede Emotion.
Jenny legte den Kopf in
den Nacken und schloss die Augen. Inzwischen hatte sie beinahe andauernd
Kopfschmerzen. Seitdem vor knapp zwei Tagen in den Nachrichten von Untoten und Zombies die Rede gewesen war, konnte sie kaum noch schlafen. Wie
die meisten anderen waren sie aufgebrochen, um Lebensmittel einzukaufen, doch
sie hatten nur noch wenig bekommen. Die Regale sahen schon Minuten nach Öffnung
des Ladens aus, als wären sie seit Wochen nicht mehr mit Nachschub versorgt
worden. Sie atmete tief durch. Zwei Tage. Es verbreitete umso schneller, je
mehr Infizierte es gab. Und das nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen
Welt.
Hierzulande wurde gleich
von Anfang an der Katastrophenschutz eingeschaltet, der mit dem Militär
zusammen arbeitete, um an vorderster Front das
Problem zu bekämpfen. Jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Nicht nur, dass die
Soldaten von der Situation überfordert waren, viele desertierten und versuchten
zu ihren Familien zu gelangen. Jenny konnte es ihnen nicht verübeln. Sie musste oft an
ihre Eltern denken. Seit fast zwei Jahren hatten sie nicht mehr miteinander
gesprochen und jetzt, als Chris und sie versucht hatten, sie zu erreichen, waren
die Leitungen blockiert. Der Gedanke versetzte ihrem Herz einen schmerzhaften
Stich und sie schluckte schwer. Sie hoffte, dass sie, wenn sie erst einmal im
Flüchtlingslager angekommen waren, dort in einer Vermisstenkartei nach ihnen
suchen konnten.
Als bekannt wurde, dass
die Untoten zum Abschuss freigegeben waren, gelangte sie zur festen Überzeugung,
dass die Welt am Ende war, auch wenn sie es vor Chris nicht zugeben wollte. Ein
Schuss in den Kopf. Wäre das nicht absolut paradox, hätte sie wahrscheinlich
darüber gelacht. Ja, es wurde in den Nachrichten tatsächlich erzählt, dass man
diesen Menschen, was sie zweifellos einmal gewesen waren, das Gehirn zerstören
musste, um sie unschädlich zu machen.
„Und, was machen wir
jetzt?“
Jenny blinzelte verwirrt
und versuchte den Faden wieder aufzunehmen. „Was?“
„Die Evakuierung. Was
machen wir jetzt?“
Sie zuckte mit den
Schultern. „Ich würde sagen, wir packen unsere Sachen und warten, bis sie die
Termine herausgeben. Dann werden wir weitersehen.“
Er nickte.
„Gut“, meinte er. „Wir
haben eigentlich auch keine andere Wahl. Die einzige Alternative wäre, hier zu
bleiben.“
Jenny schnaubte.
„Also, ich möchte nicht unbedingt
auf mich allein gestellt sein, wenn die Dinger erst einmal hier sind. Und hier
sind wir sowieso nicht sicher. Wir wohnen im dritten Stock, in einem Viertel
mit mehrgeschossigen Wohnhäusern, mitten in der Stadt. Es gibt keinen Ort, der
ungünstiger ist.“
„Ich weiß ja, dass unsere
Möglichkeiten sehr begrenzt sind. Trotzdem sollten wir immer im Hinterkopf
behalten: Wo viele Menschen sind, ist die Infektionsgefahr höher. Das haben sie
so ähnlich sogar im Fernsehen gesagt. Und das Militär ist jetzt schon komplett
überfordert.“
Chris stand auf und
faltete die Hände über seinen fast kahl geschorenen Schädel. Sein Shirt spannte
sich um seinen durchtrainierten Oberkörper, während er im Zimmer umher tigerte.
„Ich bin jedenfalls froh,
wenn wir die ganze Scheiße überstanden haben“, meinte er leise.
Eine Weile sagten sie
nichts. Jenny lauschte dem Lärm draußen auf der Straße, der zu ihnen herauf schallte.
Viele Leute dachten nicht daran, die Ratschläge im Fernsehen zu befolgen, und zogen
auf eigene Faust los, bevor es zu spät war. Vielleicht hätten sie das besser
auch tun sollen. Vielleicht sollten sie
es noch tun. Seit zwei Tagen wurde es im Haus immer ruhiger. Etliche Leute
waren schon aufgebrochen, um zu irgendwelchen Verwandten auf dem Land zu
fahren. Eigentlich keine schlechte Idee – wenn man denn Verwandte auf dem Land
hatte. Sie musste an ihre Arbeit denken, der sie schon seit zwei Tagen
fernblieb. Ihre Stelle als Verkäuferin im Einkaufszentrum hatte sie nicht mehr
besucht, seit die ersten seltsamen Nachrichten im Fernsehen kamen. Mit der
Behauptung sich eine schlimme Erkältung eingefangen zu haben, hatte sie sich krankgemeldet.
Sie hatte zu Hause bei ihrem Bruder sein wollen, wenn es schlimmer wurde. Was
ihr zuerst noch übertrieben vorgekommen war, hatte sich im Nachhinein als weise
Voraussicht entpuppt und sie war froh, so gehandelt zu haben. Sie fragte sich,
ob sie jemals wieder dort arbeiten würde.
Als es klopfte, schreckte
sie hoch und hielt instinktiv den Atem an. Sie war ganz in ihren Gedanken
versunken gewesen und sofort in Alarmbereitschaft. Ihr Nervenkostüm war schon
deutlich in Mitleidenschaft gezogen.
„Leute, ich bin es!“, hallte
es durch die Tür. „Macht mal auf!“
Jenny atmete erleichtert
aus. „Das ist Steve“, sagte sie.
„Habt ihr es auch gehört?“,
fragte er ohne Umschweife, als sie die Tür öffnete. Ihr Nachbar schob sich an
ihr vorbei und setzte sich auf den einzigen Sessel in dem kleinen, vollgestellten
Wohnzimmer.
„Die Evakuierung?“,
fragte Chris. „Ja, wir haben gerade darüber gesprochen.“
„Ich habe schon gestern meine
Sachen gepackt, ich bin bereit.“
„Hast du schon was von
deiner Freundin gehört?“, fragte Jenny. „Bier?“
„Ja, ein Pils, bitte!“,
rief er ihr hinterher, als sie in die Küche ging. „Von Melissa habe ich noch
nichts gehört. Das Netz ist total überlastet. Vor ein paar Stunden ist eine SMS
durchgekommen, das war es aber auch schon. Ich hoffe, dass wir uns in diesem
Sammellager wieder treffen.“
Jenny hatte seine
Freundin erst einmal durch den Türspion hindurch gesehen. Meistens fuhr Steve
übers Wochenende zu ihr. Melissa wohnte ein ganzes Stück außerhalb der Stadt,
was ihre Beziehung oft auf die Probe stellte. Jenny schnappte sich ein Bier und
die Flasche Pepsi aus dem Kühlschrank und gesellte sich wieder zu den anderen.
Chris lehnte sich nach vorne und holte unter dem Tisch eine Packung Tabak und
Papers hervor.
Während des Abends
schlief Jenny mehrmals auf dem Sofa ein und wurde öfter geweckt, weil die
beiden Jungs Radau machten. Mitten in der Nacht fuhr in der Haltebucht der
Bushaltestelle gegenüber ein orangenes Fahrzeug der Straßenmeisterei vor. Zwei
Männer stiegen aus und stellten ein grünes Schild mit weißem Druck auf.
„Dieses Schild haben sie vorhin im Fernsehen
gezeigt“, erklärte Steve. „Das heißt, hier ist ein Sammelpunkt für die
Evakuierung. Sieht aus, als hätten wir Glück.“
„Was habe ich noch alles
verpennt?“, fragte sie, als sie sich wieder aufs Sofa setzte und sich in die
Decke einwickelte.
„Die Evakuierungs- und
Fahrpläne wurden online gestellt“, antwortete Chris. „In knapp zwei Stunden
kommen die ersten Busse.“
„Dann sollten wir unseren
Kram zusammenpacken.“ Sie gähnte.
Noch bevor sie sich aufraffen konnte,
aufzustehen und sich fertig zu machen, hatte sich auf der Straße schon eine
Ansammlung von Menschen gebildet. Nicht nach zwei, sondern nach drei Stunden kamen
die ersten Busse. Obwohl die Schlange der anstehenden Transportmittel endlos
lang schien, brach der Ansturm nicht ab. Immer mehr Menschen drängten sich
unten auf den Straßen, Polizei und Feuerwehr versuchten das Chaos zu bändigen. Immer
wieder sah man Fahrzeuge der Bundeswehr vorbei fahren. Jenny fluchte. Sie
hätten sich beeilen sollen. Hätten sie sich gleich angestellt, wären sie nun
schon längst auf dem Weg in die schützenden Mauern des Flüchtlingslagers.
„Sieht so aus, als wären hier eine Menge
Leute von außerhalb“, meinte Steve.
„Kann ich mir gut vorstellen. In den
Städten wird zuerst evakuiert. Die Leute vom Dorf wollen wohl nicht zurückgelassen
werden“, antwortete Chris und warf Jenny einen Wanderrucksack auf das Sofa.
„Mach mal hinne, Schwester.“
Doch Beeilung war nicht nötig. Sie
beschlossen zu warten, bis die Menschenmassen auf den Straßen sich lichten
würden. Unter diesen Umständen hätte es wenig Sinn, sich schon jetzt dort
anzustellen. Inzwischen hatte das Militär auch in ihrem Block Barrikaden
errichtet und Lager aufgeschlagen. Der Platz für die Bürger schwand.
„Spätestens morgen früh stellen wir uns an.
Wenn das so weiter geht, sind alle Busse weg und wir sitzen immer noch hier
oben und warten“, sagte Chris.
Steve und Jenny stimmten ihm zu. Langsam
wurde die Sache brenzlig. Im Fernsehen sagten sie, dass in manchen Städten die
Evakuierung abgebrochen worden war, teils weil es Massenpaniken gab, teils weil
die Zombies schon vorgerückt waren. Das normale Fernsehprogramm lief nicht
mehr. In Dauerschleife zogen sich Infos über den Bildschirm, zwischenzeitlich
schalteten sich die Nachrichten ein, wenn es Neuigkeiten gab. So wurde für
manche Gebiete durchgegeben, dass sich die Menschen selbstständig zu den nächst
gelegenen Notlagern aufmachen sollten. In Bayern und Baden-Württemberg hielt
man jedoch an den Evakuierungsplänen fest.
Auch die zweite Nacht verbrachte Steve bei
ihnen auf dem Sofa. Jenny war zwar irgendwann zu Bett gegangen, bekam aber kaum
ein Auge zu. Die ganze Nacht über fuhren die Busse und der Lärm auf der Straße
brach nicht ab. Sie wurde unruhig. Was, wenn sie keinen Bus mehr bekommen
würden? Was, wenn vorher die Zombies kamen oder der Weg aus der Stadt hinaus
aus anderen Gründen blockiert war? Sie hatte das Gefühl, sofort aufstehen zu
müssen und irgendetwas zu unternehmen. Es war nicht ihre Art, einfach zu
warten. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Alle paar Minuten
schaute sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers. Jede Minute zog sich scheinbar
unendlich in die Länge. Obwohl sie sich schlapp und müde fühlte, pochte ihr
Herz und sie kam innerlich nicht zur Ruhe. Im Zimmer war es kühl, dennoch
schwitzte sie unablässig, als säße sie in einer Sauna. Es dauerte lange, bis
sie endlich einschlafen konnte, doch schon knapp eine Stunde später, die sich
für sie nur wie Sekunden anfühlte, riss Chris sie aus ihrem unruhigen Schlaf.
„Jenny, wach auf, wir müssen los“, sagte er
sanft.
Sie blinzelte mehrmals und hob schützend
die Hand vor ihre Augen. Licht fiel vom Flur durch die offene Tür in ihr
Zimmer. Sie hörte Steve im Flur werkeln.
„Was ist denn los?
Ist es schon so weit?“
„Ja, dort unten ist
es ein klein wenig ruhiger geworden.“
Sie drehte sich auf
den Bauch und zog die Gardine ein Stück zur Seite, um auf die Straße sehen zu
können. Es waren nicht nennenswert weniger Leute dort unten, als am Tag zuvor, aber
das war wahrscheinlich ihre letzte Chance, hier heraus zu kommen. Sie schaute
auf den Wecker. Es war kurz vor drei. Sie stieg aus dem Bett und fröstelte. Obwohl
sie fast nicht geschlafen hatte, war sie nun hellwach. Wahrscheinlich wurde
mittlerweile reines Adrenalin durch ihre Venen gepumpt.
Im Spiegel an ihrem
Schrank betrachtete Jenny sich. Ihre Augen waren geschwollen und ließen ihren
sonst so frischen Teint grau und fahl wirken. Ihre ungekämmten Haare fielen ihr
wirr ins Gesicht und bei genauerem Hinsehen konnte man den straßenköterblonden
Haaransatz unter ihrer sonst heller gefärbten Mähne erkennen. Mit beiden Händen
fuhr sie über ihr Gesicht, um die Durchblutung anzukurbeln und sich so
wenigstens ein bisschen Farbe auf die Wangen zu zaubern. Mit wenig Erfolg. Mit
ihren vierundzwanzig Jahren sah sie im Moment eher aus, wie eine alte, von
Sorgen geplagte Frau. Sie stöhnte leidig und öffnete die Schranktür. Sie kramte
eine Jeans heraus, dazu ein T-Shirt, Kapuzenpullover und eine Daunenweste. Eher
wahllos zog sie weitere Kleidungsstücke hervor und verstaute sie in dem dunkelblauen
Wanderrucksack, den sie sich vor vier Jahren gekauft hatte, als sie mit Chris,
Steve und zwei weiteren Freunden eine Wanderung durch die Schweiz und Italien
unternommen hatte. Ihre angespannten Nerven ließen ihre Finger zittern und
hinderten sie daran, die Riemen festzuziehen. Hätte sie doch schon vorher ihre
Sachen gepackt. Selbst wenn das nur eine Kleinigkeit war, überforderte es sie
in diesem Moment. Sie beließ es dabei und ging ins Bad, um in aller Eile ihre
letzten Sachen zusammenzutragen und sich fertig zu machen. Sie wünschte sich
nichts sehnlicher, als das Anstehen und Gedränge überspringen zu können und einfach
schon da zu sein. In Sicherheit.
Als sie ins
Wohnzimmer kam, standen die anderen bereits fix und fertig da. Die Rucksäcke
lehnten an der Wand neben der Tür. Keine fünf Minuten später brachen sie auf. Jenny
ließ ihren Blick ein letztes Mal durch die Wohnung gleiten. Hatten sie wirklich
alles Wichtige eingepackt? Waren alle Elektrogeräte aus? Hatten sie alle
verderblichen Lebensmittel entsorgt? War das überhaupt noch wichtig? Irritiert
schüttelte sie den Kopf und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
Im Haus war es sehr
ruhig, wahrscheinlich waren so gut wie alle ausgeflogen. Trotz ihrer Bemühungen
leise zu sein, hallten ihre flüsternden Stimmen durch das Treppenhaus, das an die
in den Verwaltungsgebäuden der Siebziger erinnerte. Wie immer roch es muffig
nach abgestandener Luft und verbranntem Essen. Unwillkürlich versuchte sie leise
aufzutreten, um weniger Geräusche zu machen. Sie wusste, dass es schwachsinnig
war, aber es gab ihr das Gefühl vorsichtig zu sein und ihr Schicksal selbst in
der Hand zu haben. Unten angekommen stellten sie sich hinter einer Traube von
Menschen an. Sie würden mindestens drei, vier Busse abwarten müssen, bis sie an
die Reihe kamen.
Jenny konnte
Menschenmengen nicht ausstehen. Der Geruch der fremden Leute löste bei ihr
einen Würgereiz aus und jedes Mal, wenn jemand sie berührte, hatte sie das
Bedürfnis um sich zu schlagen, sich Platz zum Atmen zu verschaffen. Immer mehr
Menschen drängten nach vorne und die Abstände, in denen die Busse kamen, erschienen
ihr immer länger. Immerhin standen Steve und Chris hinter ihr und schirmten sie
wenigstens ein bisschen von den Fremden ab. Als der zweite Bus wegfuhr, brach weiter
vorne eine Frau zusammen. Wahrscheinlich der Kreislauf. Sie war nicht die
erste, aber wie bei den anderen kümmerte sich kaum jemand um sie. Jeder hatte
sein eigenes Päckchen zu tragen.
Einige Väter hatten
ihre Kinder auf die Schulter genommen, manche Leute hatten sich auf ihre
Taschen gesetzt. Angespannte und besorgte Gesichter dominierten und spiegelten
das Empfinden der Leute wider.
Eine weitere Stunde
verging und der nächste Bus war immer noch nicht da. Ab und an fuhr ein bereits
voller an ihnen vorbei, der an anderen Sammelstellen die Leute abgeholt hatte.
Schon jetzt sah die
Stadt merkwürdig unbewohnt aus. Die Fenster der Häuser starrten wie leere,
seelenlose Augen in das Dunkel der Straßen, die nur schwach von dem orangenen
Schein der Straßenlaternen beleuchtet wurden. Auch die Neonleuchten der sonst
so gut besuchten Bar am Ende der Straße blieben aus. Jenny begann zu schwitzen.
Vorhin hatte es leicht geregnet und sie hatte ihre Jacke übergezogen, doch nun
hatte sie weder den Platz, noch die Lust, sich derer wieder zu entledigen. Sie
setzte ihren Rucksack ab und stellte ihn vor sich auf den Boden. Nach beinah
anderthalb Stunden kam endlich ihr Bus. Sie würden keinen Sitzplatz bekommen,
aber sie würden es zumindest hineinschaffen. Das Gedränge begann erneut. Sie
wurden von hinten nach vorne gedrückt. Vom Bus kam ein Zischen, gleich würden
sich die Türen öffnen. Ein Feuerwehrmann musste die Leute nach hinten schieben,
damit sie aufschwingen konnten. Die Menge strömte hinein und die drei kamen
immer weiter nach vorne.
Plötzlich kam von
irgendwo in ihrer Nähe ein Schrei. Jenny konnte förmlich spüren, wie die Stimmung
von Erwarten und unterschwelliger Angst in reine Panik umschlug. Sie versuchte
den Schrei zu orten, dann bemerkte sie, wie sich vorne links etwas tat. Die
Menschen stoben auseinander, doch sie hatten keinen Platz, wo sie hin konnten.
Manche wurden nach unten gezogen, viele kamen nicht mehr hoch. Jenny hatte
nicht das Bedürfnis nachzusehen, was passiert war. Sie ahnte es bereits. Die
Frau, die vorhin zusammengebrochen war, war infiziert gewesen. So musste es
gewesen sein. Vielleicht eine von außerhalb, die in die Stadt gekommen war, um
einen der Busse zu erwischen. Doch das war jetzt nicht wichtig. In ihr machte
sich ein uralter Reflex breit. Lauf! Doch
wohin? Hinter ihr, vor ihr, überall waren Menschen. Sie umringten sie wie eine
zähe Masse, die nach ihr griff und sie umschlang, sodass sie ihre ganze Kraft
aufwenden musste, um sich von ihren klebrigen Fängen zu lösen. Lauf! Sie drehte sich nach links und
kämpfte sich, vom Grauen gepackt, durch die Menge. Ihr Herz verkrampfte sich
und schnürte ihr, wahrscheinlich buchstäblich, die Blutzufuhr zu ihrem Hirn ab.
Ihr wurde schwindelig, doch sie kämpfte sich weiter durch die schwitzenden
Körper. Sie hoffte, dass Steve und Chris noch hinter ihr waren. Sie achtete
kaum auf die Leute um sich herum, die versuchten noch in den Bus zu kommen oder
das Weite suchten. Der Bus fuhr mit quietschenden Reifen los. Einer der
Polizisten nahm Anlauf und sprang durch die noch offene Tür, doch das bekam sie
nur aus den Augenwinkeln mit. Sie stolperte über etwas, das unter ihr lag und
fiel der Länge nach auf den feuchten, kalten Boden. Jenny versuchte, sich mit
den Händen abzufangen, trotzdem schlug sie mit dem Kinn hart auf den Pflasterstein
auf. Sie spürte den Dreck unter sich und kleine spitze Steine, die sich selbst
durch ihre dicke Kleidung in ihren Körper bohrten.
Nein, dachte sie. Du musst wieder hochkommen, wenn du auf dem Boden bist, zertrampeln sie
dich!
Sie versuchte
aufzustehen, doch ihre Füße hatten sich in etwas verfangen. Sie trat um sich,
doch es gelang ihr nicht, sich, von was auch immer, zu lösen. In Panik begann
sie, sich auf dem Boden zu winden, dabei sah sie, dass ihre Knöchel von den
Trägern eines Rucksacks umwickelt waren. Das war zu viel für sie, Tränen
vernebelten ihren Blick, während sie weiter hilflos mit den Füßen strampelte. Ständig
stolperte jemand über sie, trat ihr auf die Hände oder fiel über ihre Beine. Das
Gewicht ihres Rucksackes drückte sie unbarmherzig zu Boden. Plötzlich spürte
sie, wie ihr jemand unter die Arme griff und sie hochzog. Chris und Steve
hatten sie gepackt, auf die Beine gestellt und trieben sie weiter. Die Menge hinter
ihnen hatte sich zerstreut. Als sie sich umdrehte, sah sie aus der Mündung
einer schmalen Gasse weitere Untote auf sich zukommen. Wo kamen die nun auf
einmal her? Ein Polizist zog seine Waffe und schoss auf einen blutigen Haufen aus
Körpern zu seinen Füßen.
Der Schuss hallte
zwischen den Fassaden der Häuser und ließ sie für einen Moment erstarren.
Einige Leute robbten verletzt weg, hielten sich die blutenden Wunden. Sie war
sich sicher, dass es Bisswunden waren. Jeder von ihnen würde innerhalb der
nächsten Minuten oder Stunden daran sterben und Sekunden später als einer von ihnen wiederkommen. Der Polizist wusste
das zu verhindern und schoss einem, und noch einem in den Kopf. Als er sich dem
Dritten, einem kleinen Jungen, zuwandte, fiel jemand über den ausgestreckten
Arm her, mit dem er zielte. Erst nach Sekunden bemerkte sie, dass das einer der
Untoten sein musste. Wie normal er
aussah. Nur sein blutverschmiertes Gesicht und eine Bisswunde an der Hand
ließen auf einen Infizierten schließen. Der Schrei des Polizisten riss sie aus
ihrer Trance. Chris und Steve, die ebenfalls einen Moment innegehalten hatten,
zogen sie weiter.
„Los, wir müssen zurück
ins Haus!“, rief Chris und sie rannten über die Straße. Reifen quietschten, als
ein Polizeiauto gerade noch zum Stehen kam, doch das bemerkte sie kaum.
Mit zitternden
Händen schloss Chris die Tür zum Treppenhaus auf. Zusammen sprinteten sie die
Treppen hoch. Von außen klopften Menschen mit Fäusten an die Tür, doch je
weiter sie nach oben kamen, desto leiser wurde es. Zweimal kam ihnen jemand
entgegen, ansonsten schien das Haus wie ausgestorben. In der Wohnung angekommen,
sackte Jenny auf die Knie. Ihr waren die Tränen ausgegangen. Sie atmete schwer
und unregelmäßig, ihr Herz schlug schmerzhaft in der Brust. Von der Straße her
konnten sie immer noch Schreie hören. Steve zog sie hoch und nahm sie in den
Arm.
„Alles klar?“,
fragte er, selbst noch nach Atem ringend.
Sie schluckte und
nickte. Nun kam auch Chris und legte einen Arm um sie.
„Komm, setz dich
hin und beruhige dich erst einmal.“
Er zog sie ins
Wohnzimmer und sie ließen sich auf das zerfledderte Ledersofa fallen. Ein neuer
Plan musste her.
„Das war ganz große
Scheiße“, meldete sich Chris als erster zu Wort.
Jenny nickte. „Jetzt
sitzen wir hier fest.“
Wieder war sie den
Tränen nahe.
„Unsinn, wir machen
uns jetzt selbst auf den Weg und fahren eigenständig zu diesem Flüchtlingszentrum.“
Sie schnaubte. „Und
wie willst du das anstellen? Sieh mal aus dem Fenster, da unten ist der Teufel
los. Da kommen wir keinen Kilometer weit. Und wer sagt dir, dass nicht schon
jemand Infiziertes in einen der Busse gestiegen ist und gerade das ganze gottverdammte
Zentrum ansteckt?“ Sie hatte die Fassung verloren und ihre Stimme überschlug
sich beinahe.
„Sie hat recht“,
mischte sich nun auch Steve ein. „Wir sollten uns jetzt gut überlegen, was wir
tun. Fakt ist, hier können wir nicht bleiben. Wir können aber genauso wenig
einfach hier raus spazieren. Zuallererst werde ich meiner Freundin eine SMS schreiben,
dass sie in ihrer Wohnung warten und auf keinen Fall in einen der Busse steigen
soll. Wie Jenny schon sagte, dort könnte es ebenfalls bereits zu einem Ausbruch
des Virus gekommen sein. Was wir brauchen, ist ein Plan.“ Er stand auf und lief
im Zimmer hin und her.
„Du hast gut reden“,
sagte Jenny. „Wir sitzen hier knietief in der Scheiße. Wie, zum Teufel, sollen
wir aus der Stadt kommen? Wenn wir uns wirklich alleine da durchschlagen
wollen, brauchen wir jede Menge Sachen. Willst du die alle in deinem kleinen
Ford transportieren? Das ist lächerlich. Da passt noch nicht einmal meine
Kosmetiktasche rein! Ganz abgesehen davon, dass dir die Karre regelmäßig stehen
bleibt und sie am anderen Ende der Straße parkt.“
Chris setzte sich. „Ja,
mit deiner Kiste brauchen wir gar nicht erst loszufahren. Wir brauchen ein größeres
Auto, etlichen Kram, Vorräte und so weiter. Dann wäre noch das klitzekleine
Problem, einen Weg aus der Stadt heraus zu finden. Wenn es in den restlichen Teilen
auch so aussieht, haben wir schlechte Karten.“
„Nun ja, ein Auto
werden wir hier wohl irgendwo finden, viele Besitzer sind hier nicht mehr in
der Stadt oder schon tot. Die Schwierigkeit wird sein, einen Schlüssel dafür
aufzutreiben. Also wird das unsere erste Priorität sein. Oder hat einer von
euch schon mal ein Auto geknackt?“ Steve ließ sich wieder auf das Sofa fallen.
Schweißperlen standen auf seiner Stirn, seine dunklen, kurz gelockten Haare
glänzten im Licht der matten Energiesparlampe. Obwohl er recht muskulös war, sah
er neben Chris beinah schwächlich aus.
„Ich würde
vorschlagen, dass wir möglichst schnell eine Lösung finden, bevor sich dort
unten die Dinger weiter verbreiten und es dann kein Durchkommen mehr gibt. Hat
jemand einen Vorschlag?“ Steve blickte erwartungsvoll in die Runde.
Jenny überlegte. Im
Hinterhof stand immer ein alter Land Rover. Steve hatte sich schon mehrmals
aufgeregt, weil der immer wieder zwei Parkplätze in Anspruch nahm. Ein
schwarzer, bulliger Kasten mit Dellen und durchzogen von Rost. Sie konnte sich
vorstellen, dass es darin so roch, wie in dem alten Golf ihrer Eltern. Sie versuchte
sich an den muffigen Geruch der Sitze zu erinnern und an den des Duftanhängers,
der ihn überdecken sollte. Wenn sie nur wüsste …
„Der Land Rover
unten im Hof, wem gehört der noch mal? Jemandem hier aus dem Haus, oder irre
ich mich?“, sagte sie langsam und in nachdenklichem Ton.
„Ha!“ Steve schlug sich
mit der Hand auf den Schenkel. „Na klar, dieser haarige Typ, der ein Stockwerk
unter uns wohnt.“
„Gut, das ist schon
einmal ein Ansatzpunkt“, übernahm Chris das Wort. „Das Auto wäre optimal, notfalls
könnten wir auch querfeldein fahren und es hat eine Menge Stauraum. Trotzdem
brauchen wir dann immer noch den Schlüssel. Wir werden uns dafür strafbar machen
müssen.“
Jenny hob fragend
die Augenbrauen.
„Wir müssen in
seine Wohnung einbrechen und den Schlüssel holen. Wobei es auch sein könnte, eigentlich
ist es sogar wahrscheinlich, dass er seine Schlüssel mitgenommen hat. Wir haben
ihn unten an der Haltestelle gesehen.“
„Was ist mit dem
Ersatzschlüssel?“, warf Jenny ein.
„Der könnte überall sein!“
Einen Atemzug lang
schwiegen sie.
„Okay, das hilft
jetzt alles nichts“, sagte Chris. „Steve und ich gehen runter in die Wohnung
und suchen nach dem Schlüssel, und zwar jetzt. Jenny, du kannst solange hier
ein paar Vorräte zusammen packen.“
„Das kannst du vergessen,
Freundchen. Ich bleibe nicht alleine hier oben.“
„Stell dich nicht
so an, was soll dir hier schon passieren? Es dauert doch nur ein paar Minuten.“
„Ich will aber nicht alleine hier oben
bleiben“, sagte sie bockig.
Sie funkelte die
beiden böse an. Sie wusste, dass sie sich wie ein Kind aufführte, aber der
Trotz tat ihr gut.
„Du bist doch
bescheuert, es ist doch viel gefährlicher, in eine fremde Wohnung einzubrechen,
als hier oben zu warten, du blöde Kuh!“, rief Chris.
„Du bist selber
blöd, du Arsch!“, gab sie zurück und trat vor Wut gegen die Kommode, die sie
von ihren Großeltern geerbt hatten. „Wenn ich mit will, dann will ich mit und
basta. Ihr könnt ja diese bescheuerten Weiber-Arbeiten machen. Ich will mich
auch nützlich machen.“
Chris raufte sich
den nicht vorhandenen Haarschopf. Beinahe hätte Jenny laut gelacht, man merkte
ihm nicht an, dass er fast drei Jahre älter war als sie, denn sie führten sich
beide auf wie Kleinkinder.
„Das darf doch
nicht wahr sein“, presste er mit hochrotem Kopf hervor. „Fang nicht schon
wieder damit an.“
„Hey!“, rief Steve,
um Ruhe zwischen die Geschwister zu bringen. „Beruhigt euch mal! Dann bleibe
ich eben hier und ihr beide geht da runter. Mir egal, aber beeilt euch. Wir
haben für eure Kindereien hier keine Zeit.“
Nun war auch Steve
sauer und die ohnehin schon angespannte Stimmung war völlig hinüber. Jenny
grinste zufrieden und band ihre blonde Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammen.
„Also gut“, meinte Chris. „Wir zwei gehen den
Schlüssel holen, Steve bleibt hier und trägt aus beiden Wohnungen Essen und
anderen Kram zusammen.“
Steve nickte.
„Wir werden sehen,
dass wir schnell wieder hier sind“, fügte Chris noch hinzu und ging zur Tür.
Steve folgte ihm
und meinte: „Nimm die Feueraxt vom Flur mit, damit kannst du die Tür aufbrechen.
Ich hoffe, das ist der einzige Grund, aus dem ihr sie braucht.“
Jenny bereute es
mitgekommen zu sein, noch bevor sie das Treppenhaus erreicht hatten. Bei dem
kleinsten Geräusch zuckte sie zusammen. Sie hielt sich etwas hinter Chris und
klammerte sich an seinem Ärmel fest. Die Axt hing zusammen mit einem kleinen
Feuerlöscher hinter einer Glaswand, die Chris, darauf bedacht, möglichst wenig
Lärm zu verursachen, mit dem Ellbogen einschlug. Immerhin war zwischen ihnen
und den Treppen eine gläserne Brandschutztür, die zumindest dorthin die
Geräusche etwas dämmte. Jenny schaute durch die Scheibe. Draußen war alles ruhig.
Leise öffnete sie die Tür und schaute nach oben. Niemand war zu sehen. Der raue
Teppich auf den Stufen dämpfte ihre Schritte und sorgte zusammen mit ihren keuchenden
Atemzügen für eine schaurige Stimmung. Sie bogen in den langen Korridor ein.
Hinter jeder Wohnungstür, die sie passierten, stellte Jenny sich vor,
schmatzende Fressgeräusche zu hören. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so
diese Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben und folgte Chris weiter, immer mit
zwei Schritten Abstand. Als sie endlich die Wohnungstür erreicht hatten, dankte
sie innerlich allen Göttern, dass niemand ihnen begegnet war.
Chris klopfte
zögerlich an die Tür.
„Was machst du denn
da?“
„Na, schauen, ob er
Zuhause ist.“
„Er war unten an
der Haltestelle, Blödmann, er ist nicht da.“
„Waren wir auch,
und trotzdem stehen wir hier vor seiner Tür. Er könnte jetzt genauso gut dahinter stehen.“
„Jetzt mach einfach“,
drängelte sie.
Chris presste
genervt die Lippen zusammen, wie er es immer tat, wenn ihm etwas nicht passte.
„Okay, schau dich
um, ich breche jetzt die Tür auf.“
Chris steckte die
Klinge der Axt in die Türspalte, etwas unterhalb des Schlosses, und trat mit
aller Kraft dagegen. Die Türe schwang auf und knallte an die dahinterliegende
Wand. Er gab ihr ein Zeichen, die Tür zu schließen und aufzupassen, dass
niemand sie überraschen konnte. Sie schaute sich um. Der Flur war in Braun- und
Grüntönen gehalten und erinnerte sie irgendwie an die Wohnung ihrer Großeltern.
Sie roch altes Essen und Schmutzwäsche.
Jenny lehnte sich
an die Tür und beobachtete Chris, der mit erhobener Axt in die Zimmer lugte,
als erwarte er, ihm würde Bigfoot persönlich entgegenspringen. Als er sicher
war, dass sich außer ihnen niemand in der Wohnung befand, stellte er die Waffe
im Flur neben die Garderobe und machte sich daran, die Schubladen der Kommode
zu durchwühlen.
„Nichts“, sagte er
nach einer Weile.
„Schau in den
Küchenschubladen nach, wenn er dort nicht ist, würde ich im Wohnzimmerschrank
schauen.“
Er nickte und begab
sich in die Küche. Sie schaute durch den Türspion, während sie ihn in der Küche
herumwerkeln hörte. Schon nach wenigen Minuten kam er wieder. In seiner
erhobenen Hand hielt er einen Schlüsselbund. Sie musste grinsen. Bisher lief
alles wie geschmiert. Er nahm die Axt wieder auf. Jetzt mussten sie nur wieder
heil nach oben kommen, dann konnte es losgehen.
„Gut, lass uns hier
verschwinden“, drängelte Chris und schob Jenny vor sich her.
Sie öffnete die Tür
und schreckte zurück, als sie sich einem Mann gegenüber sah. Plötzlich ging
alles schnell. Sie wurde zur Seite gestoßen, knallte an den Türrahmen und fiel
an dem Mann vorbei in den Flur. In derselben Sekunde fiel etwas Großes direkt
neben ihr zu Boden. Sie erkannte den Typen, dem der Land Rover gehörte. Aus
einer Wunde zwischen Hals und Schulter sprudelte Blut. Unwillkürlich schrie sie
auf und robbte von ihm weg. Chris hatte wohl mehr aus Reflex, als bewusst, reagiert
und ihm die Klinge ins Fleisch geschlagen. Sie sah nach oben und beobachtete, wie
sich seine Augen weiteten, als er erkannte, was er getan hatte. Sie fing seinen
Blick ein.
„Chris, alles okay?“
Zögernd nickte er.
Offenbar stand er unter Schock. Oder zumindest war er von seinem Handeln so
überrascht, dass er vorübergehend nicht in der Lage war, sich zu bewegen.
Mühsam rappelte sie sich auf. Sie war hart auf den Linoleumboden gekracht und
ihre Hüfte schmerzte. Sie ignorierte es und ging neben dem Mann in die Hocke,
um seinen Puls zu fühlen, jedoch ohne ein Lebenszeichen von ihm zu erwarten.
Sie hatten tatsächlich gerade einen Menschen umgebracht. Und gleich würden sie
ihn auch noch bestehlen. Tiefer konnte man nicht sinken. Ohne jede Vorwarnung
bäumte sich der Mann auf und schnappte nach Luft. Erschrocken wollte sie zurück
springen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Erneut krachte
ihr Steiß auf den harten Boden. Sie konnte förmlich sehen, wie Chris wieder zu
sich kam und instinktiv nach ihrem Arm griff. Der Kerl sackte nach hinten und
blieb reglos liegen.
„Scheiße, der lebt
noch“, sagte Chris nüchtern und zog sie auf die Beine.
„Sei froh, dass du
ihn nicht umgebracht hast.“
„Er wird sowieso
sterben. Oder glaubst du etwa, jetzt würde noch ein Krankenwagen kommen? Ich
habe ihm fast den Kopf abgeschlagen, er wird innerhalb von Minuten verbluten.
Dann lieber kurz und schmerzlos.“
„Wir könnten“, ihre
Stimme wurde ganz leise und sie konnte nicht glauben, dass sie darüber auch nur
nachdachte, „etwas … nachhelfen.“ Noch während sie das aussprach, wunderte sie
sich über ihre eigenen Worte. Hatte sie das soeben tatsächlich in Erwägung gezogen?
Chris antwortete
nicht darauf, stattdessen sagte er: „Los, hilf mir den Typen in die Wohnung zu
schaffen. Ich glaube nicht, dass es schlau ist, ihn hier draußen liegen zu
lassen.“
„Was, wenn -“,
Jenny überlegte, ob sie das wirklich aussprechen wollte. „Was, wenn sein Blut
uns ansteckt, mit … mit diesem Virus?“
Chris schnaubte. „Er
wurde doch gar nicht gebissen.“
„Wer sagt uns, dass
er nicht trotzdem infiziert ist? Dass wir es nicht alle sind?“
Er schaute sie
irritiert an. „Durch die Luft oder was? Rede keinen Unsinn und pack mit an!“
Sie half ihm, den
Mann in den Flur zu ziehen, wobei sie eine Blutspur hinterließen, die auf dem
hellen Boden nur zu deutlich zu erkennen war. Der Kerl roch wie seine Wohnung,
der ungepflegte Vollbart und seine Haare waren dunkel und wirr. Seine Augen
huschten umher, doch er war kaum noch bei Bewusstsein und außerstande sich zu bewegen.
Wieder ging Jenny neben ihm in die Hocke, um nach der Wunde zu sehen, doch
Chris umfasste ihr Handgelenk und zog sie nach oben.
„Gehen wir“, sagte
er gehetzt.
Sie schlossen die
Tür so gut es ging und schlichen wieder nach oben. Während des ganzen Weges
dachte sie an den Sterbenden, der in seiner eigenen Wohnung lag, alleine, und
langsam ausblutete. Normalerweise hätten die Nachbarn längst die Polizei
gerufen und Chris, und wahrscheinlich auch sie, ständen mit einem Bein im
Knast. Sie hatten einen Menschen getötet.
Gequält verzog sie das Gesicht, das schlechte Gewissen drohte sie zu erdrücken.
Sie wurde langsamer, brauchte eine Pause. Das war einfach zu viel. Chris, der
sie immer noch am Handgelenk hatte, zog sie erbarmungslos hinter sich her. Auf
seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen.
Steve erwartete sie
bereits am Eingang. Als er die blutverschmierte Klinge sah, erstarrte er kaum
merklich, wartete aber, bis beide drinnen waren und die Tür geschlossen war,
bevor er fragte: „Was ist passiert?“
Chris ging wortlos
an ihm vorbei ins Bad, um die Blutspritzer abzuwischen und sich frische
Klamotten anzuziehen. Jenny sah an sich hinunter. An ihrem Ellbogen hatte sie
etwas abbekommen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche, nässte es mit
Spucke und wischte es ab.
„Habt ihr den
Schlüssel?“, fragte er weiter.
„Ja, den haben wir.
Bis dahin hat auch alles super geklappt, wir sind rein, ich habe die Tür
beobachtet, Chris hat den Schlüssel gesucht und auch schnell gefunden.“
In diesem Moment
kam Chris mit nacktem Oberkörper aus dem Bad und warf wie auf Kommando den
Schlüssel auf die Kommode, bevor er in seinem Zimmer verschwand.
„Hat er –“
Jenny nickte. „Wir
wollten gerade wieder gehen, als der Typ plötzlich vor der Tür stand.“
„Der, der dort
wohnt? War er nicht unten am Bus?“
„Anscheinend hat er
den Bus auch nicht mehr bekommen, ich habe keine Ahnung. Bevor ich ihn abhalten
konnte, hatte Chris ihm schon die Axt in den Hals gehauen.“
Steve verzog das
Gesicht.
„Wir haben ihn in
die Wohnung geschleift und sind schleunigst wieder zurück gekommen. Ich hoffe
nur, dass ihn niemand findet, bevor wir hier weg sind.“
Dass sie ihn
einfach zurückgelassen hatten, ohne ihm zu helfen, verschwieg sie wohlweislich.
Sie hoffte, sie konnte das schreckliche Bild, das sich in ihr Gehirn
eingebrannt hatte, irgendwann vergessen.
Steve hatte während
ihrer Abwesenheit ganze Arbeit geleistet, Etliches zusammengetragen und in
großen Rucksäcken sowie zwei Reisetaschen verstaut. Schlafsäcke und anderes
Camping-Equipment standen sauber aufgeschichtet bereit. Wenn sie Pech hatten,
mussten sie einige Nächte im Wagen verbringen. Allein wenn sie daran dachte, wie
kalt es sogar in Sommernächten werden konnte, lief ihr ein Schauer über den
Rücken.
Nachdem Chris zwei
Zigaretten geraucht hatte, war er etwas ruhiger. Mittlerweile war die Sonne
aufgegangen, doch es versprach ein trüber Tag zu werden. Der Himmel war
wolkenverhangen und die Sonne schaffte es nicht, ihnen etwas Licht und Wärme zu
schicken. Von den Lebenden war auf der Straße nichts mehr zu sehen, ein paar einzelne
Untote wankten über den Bürgersteig – komisch, wie normal es Jenny gerade
vorkam – aber alles in allem hatte sich die Situation dort unten merklich
beruhigt. Eine ganze Weile saß sie dort und beobachtete die Gegend. Und die Zombies.
Sie sahen wie ganz normale Menschen aus. Ihr fiel es schwer zu begreifen, was
sie da sah. Sie kamen ihr vor wie, ja, wie Betrunkene. Sie musste bei dem
Vergleich glucksen, hatte aber gleich darauf ein schlechtes Gewissen. Das dort
unten waren immerhin einmal Menschen gewesen. Wahrscheinlich waren sie noch gestern
Abend mit ihrer Familie zusammen an einem Tisch gesessen. Sie fragte sich, ob
wohl tief in deren Bewusstsein diese Erinnerung an ihr vorheriges Leben noch
schlummerte.
Sie hatte nicht
lange Zeit, sich auszuruhen. Um sich einen Überblick zu verschaffen, mussten
sie in Steves Wohnung, wo die Fenster in den Hof wiesen. Nur wenige Minuten
später waren sie auf dem Weg nach unten, jeder mit einer Schlagwaffe
ausgerüstet, und bereiteten sich auf ihren ersten hautnahen Kontakt mit den Zombies
vor. Am liebsten hätte Jenny diesen Zeitpunkt noch lange, sehr lange,
hinausgezögert, doch sie wusste, dass ihre Chancen sanken, je mehr sie zögerten.
Je länger sie warteten, desto mehr Infizierte gab es, desto mehr sank die Moral
der Überlebenden. Der Rucksack war schwer, schon nach kurzer Zeit tat ihr der
Rücken weh. Auf dem Weg zur Haustür begegnete ihnen keine Menschenseele. Unten
im Flur ging es geradeaus zur Straße, um auf den Parkplatz zu kommen, mussten
sie in die entgegengesetzte Richtung zum Hinterausgang gehen. Durch die Milchglasscheibe
konnte sie schlurfende Gestalten erkennen, nach hinten hinaus gab es zum Glück
klare Scheiben in der Türe. Dort sahen sie, was sie schon von Steves Wohnung
aus gesehen hatten: einen einzelnen Zombie, der zwischen den parkenden Autos
umher wandelte. Ohne zu zögern, taten sie, wie sie vorher besprochen hatten.
„Bereit?“ Steve
steckte den Hammer in seinen Gürtel und umfasste den Türgriff. Chris und Jenny
nickten.
„Eins. Zwei. Los!“
Steve riss die Tür
auf und steuerte direkt auf den Wagen zu, sein eigenes und Teile von Chris
Gepäck auf dem Rücken. Chris rannte mit der Axt auf den Zombie zu und spaltete
ihm mit einem sauberen Schlag den Schädel. Dann warf er seinen Rucksack ab, direkt
vor Steves Füße, der in der Zwischenzeit den Kofferraum geöffnet hatte, und
wandte sich dem nächsten zu, der an der Einfahrt herumlungerte. Jenny war Steve
dicht auf den Fersen, erstarrte aber, als sie die Untoten sah und verfiel
kurzzeitig in Panik. Würde sich das jemals ändern? Würde sie jemals gefasst auf
sie zugehen können und ihnen den Kopf einschlagen, mit einer Routine, als würde
sie sich einen Donut kaufen? Sie wunderte sich, wie Chris das so einfach
konnte.
„Jennifer!“, rief
Steve und erinnerte sie daran, weiter zu laufen und ihm zu helfen, alles im
Kofferraum zu verstauen. Während sie noch den Deckel zuschlug, startete Steve
bereits den Wagen. Sie sprang auf den Rücksitz. Chris hatte den Zombie erledigt
und sich einem weiteren zugewandt, der durch das Tor in den Innenhof gekommen
war. Steve fuhr mit quietschenden Reifen aus der Parklücke, schaltete in den
Vorwärtsgang und hielt unmittelbar neben Chris an, der einstieg und noch bevor
die Tür ganz geschlossen war, gab Steve Gas. Sie passierten das Tor, preschten
die Einfahrt hinaus und konnten gerade noch einem Auto ausweichen, das die
Straße entlang raste. Als sie die Hauptstraße erreicht hatten, atmeten sie auf.
Die erste Hürde war geschafft.
Hindernisse und Bekanntschaften
27. September bis 01. Oktober
Es begann wieder zu
regnen, als sie in Richtung Stadtausgang fuhren. Sie hatten beschlossen die
Autobahn zu meiden und München über die Bundesstraße zu verlassen. Je weiter
sie fuhren, desto weniger Menschen sahen sie. Mehrere Autos kamen ihnen
entgegen, manche überholten sie, aber im Gegensatz zu normalen Umständen, war der
Verkehr kaum der Rede wert. Ihren Stadtteil hatte es offensichtlich als erstes
und am schlimmsten getroffen. Sie sahen Menschen, die vor den Toten davon
liefen, sich Wunden hielten, verzweifelt versuchten, vorbei fahrende Wagen zu
stoppen. Zwei nebeneinander parkende Autos hatten Feuer gefangen und die
Flammen drohten, auf weitere überzugreifen. Hier und da waren da Leute, die
Elektrogeschäfte und andere Läden ausräumten. Dafür sahen sie ein paar
Kilometer weiter überhaupt keine Zombies mehr. Ab und an überquerte jemand die
Straße, einige kamen aus dem Supermarkt, andere packten ihre Autos. Offensichtlich
hatte sich der Virus doch nicht so schnell ausgebreitet, wie sie zuerst befürchtet
hatten. Trotzdem merkte man auch hier, dass etwas nicht stimmte. Jeder einzelne
wirkte gehetzt, ängstlich und aufgebracht. Im Radio lief nur noch eine Dauerschleife,
die ihnen keine neuen Informationen mehr brachte.
Hatten sie anfangs
noch gehofft, es recht schnell aus der Stadt heraus zu schaffen, mussten sie
bald feststellen, dass sie keine Chance hatten, an Tempo zuzulegen. Als sie auf
die Bundesstraße auffuhren, stießen sie direkt an das Ende eines Staus. Steve
fluchte und schlug mit den Handflächen auf das Lenkrad.
„Was ist da vorne
los?“, wollte Jenny wissen und lehnte sich nach vorne, um durch die
Frontscheibe etwas erkennen zu können. Blaulicht reflektierte sich an den
Regentropfen, die auf die Scheibe prasselten.
„Ich steige aus und
sehe mal nach“, sagte Chris und schnallte sich ab.
„Ich komme mit.“ Jenny
machte Anstalten, die Türe zu öffnen.
„Hey, Moment! Was
ist mit mir?“
„Du wartest hier“, meinte
Jenny trocken. „Wir sind in fünf Minuten wieder da.“
Sie warf ihm feixend
eine Kusshand zu. Es dauerte eine Weile, bis sie die Autos passiert hatten und
an den Anfang des Staus gelangten. Schon von Weitem erkannten sie, dass es sich
um ein Auto und einen Kleinbus der Polizei handelte. Unterwegs kamen ihnen
einige Fahrzeuge entgegen, die gewendet hatten und wieder in die Stadt fuhren. Schließlich
sahen sie, dass die komplette Straße abgesperrt war.
Was sollte das?
Warum gaben sie den Menschen nicht die Chance aus der Stadt herauszukommen?
Sich und ihre Familien zu retten?
Eine Menschentraube
hatte sich um einige Polizisten versammelt.
„Bitte haben Sie
Verständnis dafür. Die Straße wird für das Militär und die Fahrzeuge für die
Evakuierung frei gehalten. Bitte warten Sie auf weitere Busse oder versuchen
Sie es auf anderem Weg. Wir versichern Ihnen, dass zurzeit für Sie noch keine
Gefahr besteht! Die Straßen in die Stadt wurden alle gesperrt, gebissene und
infizierte Personen haben keine Möglichkeit, hier auf normalem Weg in die Stadt
zu kommen.“
Laute Proteste
brachen aus. Manche fingen an, die Polizisten zu beschimpfen. Kalter Wind blies
Jenny den Regen ins Gesicht und sie musste die Augen zusammen kneifen, um das
Szenario besser beobachten zu können.
„Von wegen, in der
Stadt gibt es schon Tote!“, rief ein Mann. „Beinahe hat es meine Frau erwischt.
Wenn Sie uns hier einsperren, sind wir bald tot.“ Andere Leute stimmten mit
ein.
„Bitte steigen Sie
wieder in ihre Wagen und fahren Sie nach Hause! Wir sind angewiesen, niemanden
passieren zu lassen. Bitte kehren Sie um, oder wir sind gezwungen Gewalt anzuwenden!“,
wiederholte einer der Polizisten, wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal.
Obwohl seine Stimme
fest und bestimmend war, konnte Jenny sehen, wie er einem seiner Kollegen einen
unsicheren Blick zuwarf. Sie wusste, dass sie sich nicht mehr sicher sein
konnten, wie lange die Situation noch unter Kontrolle war. Wütende und
verängstigte Menschen waren nicht zu unterschätzen.
„Das wird ja immer
schöner“, schimpfte ein dicker Mann, der seine Mütze tief ins Gesicht gezogen
hatte.
Chris nahm Jenny am
Arm und zog sie zurück.
„Komm, gehen wir,
ich habe genug gehört“, flüsterte er. „Das hat keinen Zweck, wenden wir, bevor
es die anderen tun. Wir suchen uns einen anderen Weg aus der Stadt heraus.“
Jenny nickte.
Ängstliche Gesichter schauten sie aus den Autofenstern heraus an. Wartend,
hoffend. Sie ahnte, dass viele von ihnen in ein paar Tagen wohl nicht mehr am
Leben sein würden.
Als sie wieder am
Wagen ankamen, trommelte Steve bereits ungeduldig mit den Fingern auf dem
Lenkrad.
„Und?“, fragte er,
als sie eingestiegen waren.
„Du musst wenden,
da gibt es kein Durchkommen. Sie haben die Straße gesperrt.“
Steve fluchte
erneut. „Dann probieren wir es doch über die Autobahn. Und sobald
wir hier raus sind, sollten wir volltanken. Wir haben nur einen halb vollen Tank“,
meinte er mit einem Blick auf die Anzeige. „Sonst schaffen wir es nicht zu Lissy.“
Jenny fing Chris‘ Blick
auf und wusste, dass er dasselbe dachte, wie sie.
„Steve“, begann sie
zögerlich. „Wie genau hast du dir die Sache mit deiner Freundin vorgestellt?“
Er reagierte nicht. Den
Blick auf die Straße geheftet, lenkte er das Auto in die entgegengesetzte
Richtung.
„Ich meine, du kannst
nicht sicher sein, dass sie deine Nachricht bekommen hat. Sie könnte trotzdem
in einen der Busse gestiegen sein. Wie willst du sie dann finden? Sie könnte
überall sein, in ihrer Wohnung, in dieser Notunterkunft, oder aber überall dazwischen …“
Steves Kopf schnellte
herum. „Wie meinst du das?“
Er schaute wieder nach
vorne, er hatte kurz die Kontrolle über den Wagen verloren und konzentrierte
sich wieder auf die Fahrbahn.
„Willst du damit sagen,
ich soll sie im Stich lassen?“
„Ich meine nur, die
Wahrscheinlichkeit, dass wir sie finden, ist sehr gering. Ganz abgesehen davon,
dass wir direkt auf die Rote Zone zufahren müssten – zu ihr zu fahren würde
einen Umweg von zig Kilometern bedeuten.“
Sie wartete wieder einen
Moment, um ihm die Möglichkeit zu geben, das sacken zu lassen.
„Vielleicht sollten wir
uns erst einmal um uns kümmern.“
Ihr schwante, dass es ein
schlechter Zeitpunkt war, das anzusprechen, aber wahrscheinlich gab es dafür
gar keinen richtigen. Sie sah aus dem Fenster und bemerkte, dass es in diesem
Teil der Stadt noch keine Zombies gab. Sie waren nun fast am Stadtrand und
würden gleich das Autobahnkreuz erreichen.
„Ihr versteht das nicht.
Ich kann sie nicht einfach sitzen lassen.“ Er zögerte kurz. „Sie ist schwanger.“
„Von dir?“, fragte Chris
verdutzt.
Jenny schlug nach ihm. „Natürlich
von ihm, du Idiot.“
Trotzdem war auch sie
überrascht. Davon hatte er ihnen zuvor nichts erzählt. Sie fragte sich, wie lange
er das schon wusste. Zugegeben änderte das die Situation, allerdings nicht
unbedingt grundlegend. Es war nicht klug, wenn sie weiter durch die Gegend
fuhren. Sie beschloss, nicht weiter nachzuhaken.
„Steve, verstehe das
bitte nicht falsch, ich würde mir auch wünschen, dass alles einfacher wäre.
Dass wir hinfahren, sie abholen und das gemeinsam in aller Ruhe aussitzen
können. Aber du musst zugeben, dass das nicht die Realität ist. Sie wird sich
bestimmt auch irgendwo versteckt haben oder vielleicht ist sie schon im Lager
und ihr geht es gut. Wir müssen zusehen, dass wir in Sicherheit sind. Es ist
nicht gut, wenn wir jetzt alles überstürzen. Tot nützt du ihr nichts. Glaub
mir, ich kann verstehen, dass du schnellst möglich zu ihr möchtest, vor allem,
weil sie mit deinem Kind schwanger ist, aber lass uns ein paar Tage warten und
sehen, wie sich die Lage entwickelt. Bitte.“
„Bist du auch ihrer
Meinung?“
Chris drückte sich etwas
unbehaglich in seinen Sitz. „Na ja, sie hat recht, das musst du einsehen.“
Steve warf ihm einen halb wütenden, halb verzweifelten Blick zu.
„Kumpel, du musst
verstehen, wir wollen einfach nur, dass …“
Steve bremste abrupt und
sie ruckten nach vorne. Er wollte gerade auf die Autobahn auffahren, als er hinter
der Kurve den Stau sah.
„Nicht schon wieder“,
stöhnte Chris. „Wenn es so weiter geht, dauert es bis morgen früh, bis wir
überhaupt aus der Stadt raus sind. Die Zeit haben wir nicht, verdammt.“
Jenny beschloss, nicht
weiter nachzubohren. Abwarten und Tee trinken,
dachte sie. Erst einmal aus der Stadt herauskommen.
Schnell hatte sich auch
hinter ihnen eine lange Schlange gebildet. Nahezu alle Autos, die Jenny
betrachtete, waren bis zur Decke vollgepackt. Niemand befolgte mehr die
Anweisungen aus dem Fernsehen und Radio, auf die Busse wollte sich wohl keiner
mehr verlassen. Das war nun die Quittung.
Jenny fror. Ab und an fuhren
sie ein paar Meter weiter, aber es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie
überhaupt auf die Autobahn kamen. Alle vier Spuren und der Standstreifen waren
voll wartender Autos. Doch selbst, wenn sie noch hätten umkehren können, hätten
sie es nicht getan. Sie mussten aus der Stadt hinaus und sie schätzte, dass es
auf allen Straßen so aussah, die nach außerhalb führten. Mehrere Hubschrauber donnerten
über sie hinweg in Richtung Stadt. Der Herbstwind fegte über ihr Auto und
wirbelte Blätter durch die Luft. Das schlechte Wetter hinterließ bei allen eine
gedrückte Stimmung.
„Vielleicht ist da vorne
wieder eine Polizeisperre?“, meinte Chris und reckte sich, um etwas sehen zu
können. Viele Leute waren ausgestiegen und liefen ein Stück nach vorne. Man
konnte dort tatsächlich ein blaues Licht vermuten, aber es war zu weit vorne,
um etwas Bestimmtes ausmachen zu können. Das konnte noch Stunden dauern. Man
konnte es drehen und wenden, wie man mochte, sie saßen fest. Das gefiel ihr gar
nicht. Es war genau so, wie sie es anfangs befürchtet hatte.
Diesmal machten sie sich
nicht die Mühe, nach vorne zu laufen und zu fragen, was los war. Ab und an stiegen
sie aus und vertraten sich etwas die Beine. Von den anderen Leuten hörte man
die abenteuerlichsten Gerüchte, von wegen, wenn alle wichtigen Politiker und einflussreiche
Personen in Sicherheit wären, würde das Land mit Atombomben beschossen werden
und das Militär wäre schuld an der Katastrophe, da es mit biologischen Waffen
experimentiert hätte. Letzteres würde Jenny gar nicht wundern, wenn es stimmte,
doch sie glaubte nicht, dass auch nur eine dieser Behauptungen auf Tatsachen basierte.
Nach einigen weiteren abstrusen Geschichten wollte sie sich das nicht mehr
antun und blieb im Wagen sitzen. Und sie taten das Einzige, was sie konnten: sie
warteten. Mehrere Stunden lang. Jenny war eingenickt und in einen unruhigen
Schlaf gefallen, ehe sich durch einen Stoß durch einen der beiden geweckt wurde.
Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu orientieren. Draußen war es schon beinahe
dunkel und es schüttete wie aus Eimern.
„Es geht weiter“, sagte
Steve.
Sie wischte mit dem Ärmel
über die angelaufenen Scheiben und schaute aus dem Fenster. Einige Leute stiegen
wieder in ihre Autos. Vorne löste sich der Stau bereits. Sie kamen nur langsam
voran und beschlossen, bei der nächsten Ausfahrt wieder abzufahren. Wenigstens
hatten sie dann die Stadtgrenze hinter sich gelassen und würden auf den
Landstraßen hoffentlich schneller voran kommen. Ab und an kamen im Radio wieder
ein paar Neuigkeiten. Sie berichteten einerseits von der Ausbreitung der
Seuche, andererseits von Fortschritten des Militärs. In einigen Städten und
Landstrichen waren Brandbomben eingesetzt worden, um die Gefahr flächendeckend
zu eliminieren. Zum wiederholten Male wurden die Bürger angewiesen, zugunsten
ihres eigenen Schutzes nicht zu zögern, die Untoten zu töten, sollten
sie welchen begegnen, sie sollten allerdings vorzugsweise das Haus nicht
verlassen, wenn keine Hilfe von außen in Sicht war.
Steve sprach das Thema
mit seiner Freundin nur noch einmal kurz an. Er erklärte sich bereit, noch eine
Nacht abzuwarten, dann würde er losfahren und sie suchen. Ob sie mitkamen oder
nicht. Sie beließen es vorerst dabei. Dass sie ihn noch zur Vernunft bringen
konnten, bezweifelte sie stark. Irgendwie war das ja auch verständlich.
Trotzdem war sie nicht gerade scharf darauf, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Ihre Vorstellung war es gewesen, aufs Land zu fahren, ein leer stehendes Haus
zu übernehmen und sich dort mit ein paar Vorräten zu verschanzen, bis sich die Lage
beruhigt hatte. Sie wusste nicht, ob es so einfach wäre, wie es klang. Derzeit
entwickelte sich ihr Leben zu einem klassischen Zombiefilm, in dem die
Protagonisten sich andauernd lächerlich leichtsinnig in Gefahr brachten.
Es dauerte noch eine
ganze Weile, bis sie endlich die Abfahrt erreicht hatten. Doch wieder wurde
ihnen ein Strich durch die Rechnung gemacht. Mehrere Autos waren ineinander
gefahren und blockierten den Weg. Gepäckstücke lagen auf dem Grünstreifen neben
den zerbeulten Wracks. Einige Männer waren aufeinander losgegangen und schlugen
sich die Seele aus dem Leib, während die Frauen und Kinder weinend, schreiend
und völlig aufgelöst daneben standen und den Kämpfenden unverständliche Worte
zuriefen. Genervt atmete Steve aus und umfuhr einen Wagen, der auf dem
Standstreifen abgestellt worden war. Immerhin lichtete sich nach ein paar Kilometern
der Verkehr etwas. Sie hatten noch zwei weitere Ausfahrten passiert und wollten
die darauffolgende nehmen, in der Hoffnung, dass dort etwas weniger los war,
als bei den bisherigen, und sie dann umso schneller voran kämen. Als sie endlich
abfuhren, war zwar noch genauso viel Verkehr wie zuvor, aber immerhin waren sie
jetzt aus der unmittelbaren Nähe der Stadt weggekommen. Sie fuhren eher ziellos
durch ein Gewirr von Bundesstraßen und hatten keinen Plan, wo sie in dieser
Nacht unterkommen konnten. Jenny befürchtete, dass sie die erste Nacht tatsächlich
im Auto verbringen mussten.
Immerhin waren sie eine
Weile gut vorangekommen – bis es sich wieder staute. Ein Stück weiter erkannten
sie auch den Grund: ein silberner Wagen stand rechts auf der Fahrbahn. Das
Warnlicht blinkte und der Kofferraum war offen. Davor stand eine blonde,
schlanke Frau und versuchte gestikulierend eines der vorbeifahrenden Autos
anzuhalten. Ohne Erfolg.
Jenny tippte Steve auf
die Schulter.
„Komm, halte an, wir
können die Frau doch nicht dort alleine stehen lassen.“
Steve seufzte. Ohne zu
blinken fuhr er rechts ran. Hinter ihnen hupte es und ein Transporter rauschte
an ihnen vorbei. Knapp hinter dem Wagen kam Steve zum Stehen. Die Frau kam auf
sie zu und Steve ließ das Fenster hinunter.
„Worum geht‘s?“, fragte
er unvermittelt.
Sie lehnte sich ans Auto.
Sie war hübsch, Mitte dreißig und elegant gekleidet. Ihre hellblaue Bluse hatte
sie in den Bund ihrer Markenjeans gesteckt, ihre goldenen Ohrringe passten
perfekt zu dem Chanel-Emblem auf ihrer Sonnenbrille, die sie in ihr lockiges
Haar geschoben hatte.
„Danke fürs Anhalten!“,
sagte sie, merklich erleichtert. „Es hat meinen Reifen erwischt.“ Sie verzog
das Gesicht. „Bitte denkt jetzt nicht, dass ich eine der Tussis bin, die ihren
Reifen nicht wechseln können. Ich gehöre zu der Sorte, die keinen Wagenheber
einpacken.“
„Ich denke, da können wir
helfen“, sagte Steve und stieg aus.
Jenny und Chris folgten
ihm. Gott sei Dank hatte es aufgehört, stark zu regnen, sodass sie sich nur Kapuzen
und Caps überzogen, als sie das Auto verließen.
Während die beiden Jungs
den halben Kofferraum ausräumten, um an den Wagenheber zu kommen, erzählte die
Frau, die sich als Alex vorstellte, dass sie auf dem Weg zu ihrer Schwester und
deren Familie war. Sie hatten sich am vorherigen Tag einer kleinen Gruppe angeschlossen,
die am Waldrand ein Camp aufgeschlagen hatten, als sie nicht mehr in die Stadt
gelassen wurden. Ihre Schwester hatte sie in der Nacht über ihr Handy erreicht
und sie gebeten, zu ihnen zu kommen.
„Ein paar Stunden später
habe ich mich dann auf den Weg gemacht“, beendete sie ihre Erzählung. „Wie
sieht es aus, kommt ihr mit? Sie haben sicher nichts dagegen und ich denke,
dort wären wir vorerst in Sicherheit, zumindest bis wir die Lage einschätzen können.“
Jenny fand, dass sich das
ziemlich vernünftig anhörte. Von offizieller Seite hatten sie derzeit keine
Hilfe zu erwarten. Die Menschen waren auf sich allein gestellt, so viel stand
fest. Vielleicht konnten sie dort auf Unterstützung hoffen. Sie drehte sich zu
den anderen um, die mittlerweile ihre Arbeit an dem Mercedes beendet hatten.
Sie sah, wie Steve mit
sich kämpfte, als sie von Alex Angebot erzählte. Jenny hoffte, dass er nicht
ausflippen würde, das war eine seiner weniger schönen Eigenschaften. Reizbarkeit
und ungezügelte Wutausbrüche.
„Na klar“, presste er
zwischen den Zähnen hervor. „Dann lassen wir uns dort nieder und leben
glücklich bis an unser Lebensende, oder was?“ Steve war etwas laut geworden.
Alex drehte sich ein wenig von ihnen weg, damit sie das unter sich klären konnten.
Ihr war sein Benehmen sichtlich unangenehm.
„Ich sage euch etwas: Wir
fahren los, holen meine Freundin und sie“, er nickte in Richtung Alex, „sagt
uns den Weg und wir treffen uns dort.“
Jenny spürte, wie die
aufsteigende Wut in ihr aufquoll und an die Oberfläche drängte.
„Steve, jetzt vergiss
endlich deine blöde Freundin!“, rief sie aufgebracht. „Bei dem Verkehr kommst
du nicht weit. Bis du bei ihr ankommst, ist sie längst über alle Berge. Oder
denkst du etwa, sie hockt in ihrer Wohnung und wartet, bis ihr Ritter auf dem
weißen Pferd kommt und sie rettet? Sie hat wahrscheinlich den ersten Bus genommen
und hockt längst in einem dieser Flüchtlingslager und schlürft ihre heiße
Hühnerbrühe. Mann, denk doch mal nach! Wenn wir unnötig in der Gegend herumfahren,
sind wir so gut wie tot. Wir sind sicherer, wenn wir uns außerhalb irgendwo verstecken.“
„Du!“ Steve ging
wutentbrannt auf sie zu und wollte sie packen. Erschrocken wich sie zurück,
doch Chris ging dazwischen, packte ihn am Kragen und riss ihn zurück.
„Wage es nicht, meine
Schwester anzufassen, oder ich poliere dir die Fresse!“, rief er und baute sich
vor ihm auf.
Steve richtete sich auf
und schlug mit der flachen Hand gegen das Auto. Seiner Wut war ein
nachdenklicher Gesichtsausdruck gewichen. Sein innerlicher Kampf hatte getobt,
und wer wusste es, vielleicht hatte die Vernunft gesiegt?
„Gut, wir kommen mit und
schauen uns mal um, aber ich fahre weiter und suche sie, da könnt ihr machen,
was ihr wollt.“
Er hob den Wagenheber auf.
„Wo geht‘s lang?“
Alex holte aus dem
Seitenfach der Fahrertür ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor.
„Noch ein paar Kilometer
weiter die Straße entlang, dann geht es rechts von der Bundesstraße ab. Dort
fahren wir direkt auf ein Dorf zu, davor müsste es irgendwo auf der linken
Seite einen Feldweg geben, der in den Wald führt. Mein Schwager meinte, ab da
geht es eine ganze Weile den Berg hinauf, mehrere Minuten lang. Wir müssten
quasi auf sie stoßen. Ich denke, wir haben knapp eine halbe Stunde zu fahren.“
Steve gab mit einem
Nicken sein Einverständnis. Chris, der sich ganz aus der Sache rausgehalten
hatte, drehte auf den Fersen um und folgte Steve zum Auto. Jenny schüttelte den
Kopf und sah den beiden nach. Sie verstand nicht, wie die beiden so gut befreundet
sein konnten. Sie waren grundverschieden. Steve war ein aufbrausender, fast
aggressiver Typ, für den seine Arbeit das Hauptgesprächsthema war und der immer
den Ton angab, während Chris der ausgeglichene war, der Ärger gerne aus dem Weg
ging und nicht daran dachte, einen richtigen Beruf zu lernen. Ihm reichte die
Kohle, die er schwarz auf Baustellen und bei anderen Jobs verdiente. Sie
lächelte und wandte sich Alex zu.
„Hast du was dagegen,
wenn ich bei dir mitfahre?“
Alex schüttelte den Kopf.
„Ganz und gar nicht, ich kann etwas weibliche Unterstützung gut gebrauchen.“
Die Sitze in dem Mercedes
waren bequem, die Ausstattung hochwertig. Jenny seufzte wohlig, als Alex die
Sitzheizung einschaltete. Alex konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Wo kommt ihr her?“,
fragte sie nach einer Weile. „München.“
„Hey, ich auch.“ Sie
strahlte.
Wie sich herausstellte,
allerdings aus einer weitaus schöneren Gegend, als sie. Alex arbeitete in einem
großen Unternehmen als Leiterin der Finanzbuchhaltung und verdiente dort nicht
schlecht. Sie hatte nach der Arbeit ihren Anrufbeantworter abgehört und eine
Nachricht ihrer Schwester vorgefunden. Sie war eine der wenigen, die es um
diese Zeit noch schaffte, tatsächlich einen Anruf zu tätigen. Alex Schwester
Dana und deren Mann Martin waren mit ihrer Nichte eigentlich auf dem Weg zu ihr
gewesen, denn sie hatten gehört, dass in den Städten zuerst evakuiert wurde und
hofften, so schneller in eines der Flüchtlingslager zu kommen.
Immerhin hatten sie nun etwas
gefunden, über das sie reden konnten. Während sie sich unterhielten, musterte
sie Alex. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Jenny ein paar Sommersprossen auf deren
Nase. Sie mochte Alex auf Anhieb, und das, obwohl sie normalerweise eher
zurückhaltend mit neuen Bekanntschaften war. Wahrscheinlich war es ihre
frische, offene Art, wie sie auf einen zuging, oder die Art und Weise, wie sie
redete. Jenny war sich sicher, dass sie gut auskommen würden, sollten sie
längere Zeit miteinander verbringen.
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